Disziplin der Freiheit - Teil 3
Disziplin und Freiheit in der Montessori-Pädagogik
Eine zeitgemäße und gelingende Umsetzung der Montessori-Pädagogik verlangt nicht "nur" das Prinzip der Freiheit, die bestimmte Gestaltungsprinzipien erforderlich machen (siehe "Disziplin der Freiheit", Teil 1 und 2). Für Kindergärten und Schulen, die sich als hochwertige Bildungsstätten verstehen wollen, sind noch drei weitere sehr wichtige Voraussetzungen für den Erwachsenen von Bedeutung:
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Die Fähigkeit, Entwicklung von Kindern zu beobachten und zu dokumentieren
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Die Fähigkeit zur kollegialen Zusammenarbeit und im Team zu arbeiten
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Die Fähigkeit, mit Eltern als Bildungspartner zusammen zu arbeiten
1. Anstatt Außenbewertung: Beobachtung und Dokumentation der Entwicklungsschritte und Lernerfolge
In der "Montessori-Arbeit" legt man ein hohes Gewicht auf die Entwicklungsbegleitung des Kindes und unterscheidet sich insofern von "Moment-Überprüfungen", die nur an einem bestimmten Punkt während der Kindesentwicklung (z.B. Sprachstandüberprüfung, Tests zur Schulreife) vorgenommen werden. Mattijssen (2006) entwickelte im Sinne einer kontinuierlichen Optimierung ein Beobachtungsinstrument für den Montessori-Unterricht, das wissenschaftlichen Gütekriterien gerecht wird.
Das sogenannte MKBS (Montessori-Kind-Begleitsystem) hat im Schwerpunkt folgende Funktionen:
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Darstellung der Entwicklungsschritte des Kindes
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Übersicht der Dokumentation des Lern- und Leistungsverhaltens des Kindes innerhalb der Bildungsjahre in der Einrichtung (Erstellung eines Entwicklungsprofils vom Eintritt bis zum Austritt)
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Professionalisierung der Lehrerinnen oder Lehrer (unterstützt geplante, pädagogische Entscheidungen der lehrenden Person bezüglich ihres pädagogischen Handelns und forciert die Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit sowie im Team)
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Qualitätsverbesserung der Schule
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Erstellung eines Portfolios für jedes Kind, das über die Funktions-Leistung von z.B. Pensenbücher, dokumentierte Leistungsbeurteilung, u.ä. hinaus geht und Lehrenden, Eltern und dem Kind erlaubt, den individuellen Entwicklungsverlauf zu verstehen; und es dient als Rechtfertigung gegenüber Schulämtern.
Systematische Beobachtung und deren Dokumentation ist für die Professionalisierung der (montessorisch)pädagogischen Berufsarbeit unverzichtbar, denn das ganze pädagogische Konzept Montessoris baut darauf auf.
2. Kollegiale Zusammenarbeit und gemeinsames Leitbild
Ein gemeinsames Leitbild unterstützt die Transparenz der Abläufe und Zusammenhänge des Kindergarten- bzw. des Schulgeschehens und stärkt das gemeinsame 'an einem Strang ziehen'. Es wirkt dem Handeln im "Einzelkämpfer-Dasein" und einer "Jeder-kocht-sein-eigenes-Süppchen-Kultur" entgegen. Ein Kindergarten, eine Schule kann das eigene Leitbild nur individuell erstellen, gemäß dem, was genau an Strukturen, Werkzeugen und Instrumenten gebraucht bzw. gewünscht wird. Ein Leitbild ist "das unverwechselbare Gesicht einer bestimmten Schule (Kindergartens)" (Philipp & Rolff 2006, S. 7) und Ausdruck des Profils. Ein gut entwickeltes Leitbild erweitert das "im-Kindergarten/in-der-Schule-arbeiten" mit einem gemeinsamen "am-Kindergarten/an-der-Schule-arbeiten", d.h. Kindergartenentwicklung oder Schulentwicklung wird verantwortungsvoll in die eigenen Hände genommen. Damit ein Leitbild handlungsorientierend wirken kann, gilt die Voraussetzung, dass alle in der Bildungseinrichtung Tätigen - von der Leitung bis zu den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - an der Ausformulierung und der Konsensbildung beteiligt sind. Das im Kollegium gemeinsam erarbeitete Leitbild beinhaltet das pädagogische Grundverständnis nach dem Kindergarten oder Schule entwickelt und umgesetzt wird.
Das Leitbild eines Kindergartens, einer Schule, das sich nach den Ansätzen der Montessori-Pädagogik ausrichtet, enthält in Kurzform die wichtigsten tragenden Säulen der Pädagogik und ihre daraus erwachsene Lehr- und Lernkultur (z.B. pädagogisch-didaktisches Grundverständnis, Konturen pädagogischer Arbeitsformen, pädagogisches Rollenverständnis, Lernraumgestaltung, usf.) - zeigt also nur ein Profil und ersetzt keinesfalls die Funktion eines detaillierten Konzepts. Die Wirkfunktion eines Leitbildes hat dann Kraft, wenn "die darin enthaltenen Zielsetzungen auch in Feinziele für Gestaltungsansätze und Maßnahmen übersetzt, konkretisiert und verbindlich weiterverfolgt werden" (ebenda, S. 11). Ein auf das Leitbild basierendes Konzept/Programm expliziert darüber hinaus die pädagogisch-konzeptionelle Begründung und Offenlegung der einzelnen Gestaltungsbemühungen, Arbeitsformen und Organisationsabläufe.
Das gemeinsame Leitbild ist demnach als grundlegende Basis für die Entwicklung eines programmatischen Pädagogik-Konzeptes zu verstehen, das ebenso nur im kollegialen Konsens entstehen kann. Das pädagogische Konzept wird vorrangig als Arbeits- und Entwicklungsinstrument für die einzelne Bildungseinrichtung selbst eingesetzt. Ein pädagogisches Konzept ohne Leitbild ist ein Tanz ohne Musik oder wie eine Reise ohne Ziel. Ein Leitbild und das daran angelehnte Konzept bringen eine dynamische Bewegung in der Entwicklung des Kindergartens oder der Schule, denn der pädagogische Diskurs über Grundfragen der Pädagogik und des pädagogischen Selbstverständnisses sind damit vorprogrammiert. Eine gemeinsame Ausrichtung als Rahmen für Vielfalt besitzt Synergie-Effekt, im Sinne 'mehr aus der Summe der Teile' zu machen, Reibungsverluste abzubauen sowie ein Klima der Zusammenarbeit zu begünstigen. Eine klare Positionierung des Kindergartens, der Schule gegenüber dem Träger und der behördlichen Aufsicht wird dadurch forciert genauso wie Eltern eine klarere Orientierung bei der Bewertung und Wahl des Kindergartens oder der Schule gewinnen. Das gemeinsame Entwickeln und Realisieren des Leitbildes und des Schulkonzeptes fördern auch ein 'Wir-Gefühl' und erhöht die Identifikation mit dem Kindergarten, der Schule im Kollegium. Hohe Bildungsqualität wird nicht nur am pädagogischen Konzepten gemessen, sondern auch an der Qualität der Zusammenarbeit als auch der Qualität der Kommunikations- und Kooperationskultur. Ein Kindergarten- bzw. ein Schulkonzept begünstigt ebenso eine einrichtungsbezogene Personalpolitik, denn Personalanforderungen können so klarer formuliert und inhaltlich begründet werden (vgl. ebenda, S. 14ff).
3. Elternzusammenarbeit
In dem Band "Das Kind in der Familie" (Montessori 2011, erstmals 1926) reflektiert und kritisiert Montessori bereits den Mangel, des 'zu-Wenig-Tuns' für die Vorbereitung und Hilfe für Eltern. Sie argumentiert, dass es für die bedeutenden Rollen des Lebens wissenschaftliche fundierte, oft institutionalisierte Vorbereitung gäbe, was für die Elternrolle ausgeklammert zu sein scheint. "Die Reform der Schule liegt daher in der Vorbereitung der Lehrer. Aber nicht nur sie, sondern auch die Mütter (und die Väter) und alle jene, die teilhaben am Werke der Erziehung, müssen sich umstellen" (Montessori 2011, S. 167). Montessori sieht damals schon die Notwenigkeit einer Zusammenarbeit zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Montessoris Verständnis von Kind und Familie nicht ohne Berücksichtigung zeitgemäßer Aspekte auf das 21. Jahrhundert transformierbar ist.
Wie Tschöpe-Scheffler (2009) ausführt, hat eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Eltern insofern Aktualität in der heutigen Bildungssituation, weil eine solche Partnerschaft für Eltern nicht nur entlastend sein kann, sondern hat auch nachhaltig Vorteile für die Persönlichkeitsentwicklung und den Bildungserfolg des Kindes. Im Sinne einer solchen Zusammenarbeit verstehen sich pädagogisch Tätige in Bildungseinrichtungen und Eltern, deren Kinder solche besuchen, als Erziehungs- und Bildungspartner, was sich in der Umsetzung folgender Bereiche niederschlägt:
(1) Die Gestaltung von Eltern(bildungs)abende, was impliziert, dass möglichst beide Elternteile oder diese zumindest abwechselnd anwesend sind: (a) In einem Elternabend werden in der Hauptsache allgemeine Inhalte zur Pädagogik und Erziehung thematisiert, besprochen und diskutiert, wobei Gestaltung eine konstruktive und aktive Teilnahme der Eltern erlaubt. Es geht dabei um Fragen und Problemstellungen, die Aktualität für die Beteiligten aufweisen. (b) Ein Elternabend eignet sich im Besonderen die praktizierte Pädagogik der pädagogisch Tätigen transparent zu machen: z.B. durch Vorstellen, Erklären und Diskutieren des Montessori-Konzepts, durch Einblick geben in wichtige didaktische Lernmaterialien, durch das Ermöglichen des forschenden Lernens für Eltern an Montessori-Material, u.ä.). Die in eben erläuterten Aspekte zur Elternzusammenarbeit sind insofern wichtig, weil Eltern häufig eine traditionell-konservative Erziehungs- und Bildungsbiographie aufweisen und vieles in der Montessori-Pädagogik neu, möglicherweise nur teilweise nachvollziehbar oder mit einem Vorurteil belegt ist. (c) Im Weiteren ist ein Elternabend eine Möglichkeit für Eltern in Verbindung mit anderen Eltern zu treten und sich auszutauschen, was entlastet und stärkend sein kann, weil sie erfahren, dass andere Väter und Mütter ähnliche Freuden und Schwierigkeiten mit der Erziehung haben.
(2) Das regelmäßige Führen von Elterngesprächen, was die Anwesenheit beider Elternteile erfordert, sind wesentlich für den Austausch zwischen den pädagogischen Fachkräften und den Eltern:
(a) einerseits bekommen Mutter und Vater umfassende Informationen über die Gesamtentwicklung ihres Kindes und Hintergrundinformationen, wie das Kind in der Einrichtung im Miteinander mit anderen wahrgenommen wird.
(b) andererseits werden wichtige Elemente des familiären Hintergrunds des Kindes erörtert, was oftmals hilfreich für die pädagogischen Fachkräfte ist - besonders in Problemzusammenhängen, um das Wesen des Kindes besser verstehen zu können.
(3) Das Interesse der Eltern bezieht sich auf die in der Einrichtung gelebte Pädagogik, der Mitarbeit in der Schule als auch in der Unterstützung der eigenen Kinder und wird durch die Umsetzung der wie oben angeführten Elternabende und Elterngespräche erheblich unterstützt. Auch die gemeinsame Verantwortung seitens Fachkräfte und Eltern für die kindliche Entwicklung und Bildung wird damit positiv gestärkt.
(4) Ein wesentliches Merkmal einer positiven Elternzusammenarbeit ist ein gegenseitiger wertschätzender sowie partnerschaftlicher Umgang zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern, der die nachhaltige Persönlichkeitsentwicklung und Bildung des Kindes im Fokus hat und durch ein Streben nach gemeinsamer Lösung bei Problemen charakterisiert ist. Eine gemeinsam getragene positive Entwicklung des Kindes und seine Lernerfolge hängen auch eng mit der Zufriedenheit der Eltern mit der Bildungseinrichtung bzw. mit der pädagogischen Arbeit der pädagogischen Fachkräfte zusammen. Kommen von den Eltern diesbezüglich positive Rückmeldungen oder ähnliche Formen von wertschätzender Anerkennung stärkt dies die Motivation der pädagogischen Fachkräfte.
(5) Auf Grundlage der bisher angeführten Komponenten einer positiven Elternzusammenarbeit kann eine stabile Basis für das Vertrauen von Eltern in die pädagogische Kompetenz von fachlich ausgebildeten Pädagogen/Pädagoginnen geschaffen und gestärkt werden.
Neben diesen eben genannten Punkten zur Organisation der Lernwelt des Kindes (Kindergarten, Schule) gilt es, flexibel einen Wechsel in unterschiedlichsten pädagogischen Rollen vorzunehmen - beispielsweise als Organisator, Helfer, Berater, Begleiter, Initiator, Mediator, Experte und Beobachter - ausgerichtet auf das Kind und die vorliegende Situation, um ein Lernen in Vielfalt und Gemeinschaft zu unterstützen. Das Anforderungsprofil an Pädagoginnen oder Pädagogen ist also gemessen am "Montessori-Anspruch" sehr hoch. Diese Situationsspezifität, die das Kind in die Mitte stellt, verlang vom Erwachsenen nicht Vollkommenheit, wohl aber pädagogisch-didaktische Kompetenz sowie soziale und emotionale Intelligenz.
Mehr zu diesen drei wesentlichen Aspekten als Rahmenbedingungen einer gelingenden Montessori-Pädagogik gibt es im nächsten Blog von Margareta Harrer.
Literatur:
- Mattijssen, E. (2006): Kindbegleitsystem für den Montessoriunterricht. Vleuten: Niederländischer Montessoriverband.
- Montessori, M. (2011): Das Kind in der Familie. Gesammelte Werke (Bd. 7). F. Hammerer & H. Ludwig (Hrsg.). Freiburg/Basel/Wien: Herder.
- Philipp, E. & Rolff, H.-G. (2006): Schulprogramme und Leitbilder entwickeln. Weinheim, Basel: Belz.
- Tschöpe-Scheffler, S. (2009): Familie und Erziehung in der Sozialen Arbeit. Schwalbach: Wochenschauverlag.
Autorin:
Dr. Margareta Harrer ist Expertin und gefragte Referentin für Montessori-Pädagogik.
Leiterin der Bildungswerkstätte Eigenaktives Lernen (BEL) in Österreich │ Ausbilderin der Lehrgänge zur Montessori-Pädagogik mit Schwerpunkt auf zeitgemäße Umsetzung in der Praxis │ Doktorat in den Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg │ Studium der Soziologie an der Universität Linz │ Buchautorin │ Begleitendes Coaching für Montessori-Pädagogik in Kindergarten und Schule
Wie kann aus diesem Artikel zitiert werden?
Bitte geben sie folgende Quelle an:
Margareta, Harrer (2017): Disziplin der Freiheit. Teil 3.
(www-Dokument).
Verfügbar unter: http://www.bel-montessori.at/blog/disziplin_der_freiheit_teil_3