Wasser und Tee Treffpunkt Ethik: Maria Montessori und der Dalai Lama
Maria Montessori und Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, stellen in ihrer Sicht auf Welt und Mensch humanistisch-friedliche Werte über ethnische, soziale, kulturelle oder religiöse Wertvorstellungen. Beide sind als sehr gläubige Menschen zu bezeichnen. Trotzdem - oder gerade deshalb? - verstehen sie, dass eine menschenwürdige Ethik über religiöse Werte zu stellen sind. Eine Ethik, die von Werten wie Liebe, Selbstbestimmung, Empathie, Würde und Freiheit getragen ist.
Solche Werte einer "säkularen Ethik" hebt Montessori durchgehend in ihrem ganzheitlichen Erziehungskonzept hervor. Neben dem Erwerb von Kulturwissen geht es ihr auch um die Ausbildung zur Eigenverantwortlichkeit, Verständnis von Zusammenhängen des Lebens, Sozialität, Mitgefühl, Respekt, Achtsamkeit, Autonomie, Liebe und Wertschätzung. Alles Werte, die sich konsequent in Montessoris Wirken und Denken wiederfinden und uns angesichts heutiger (Welt)Probleme mehr als zeitgemäß erscheinen. Man könnte sagen, diese Werte bilden ein 'Meta-Fundament' für die Montessori-Pädagogik, deren Basis die Psychologie des Menschen (sensible Phasen) ist und die bewusste Lern- und Lebensraumgestaltung (vorbereitete Umgebung) sowie ein neues Rollenverständnis des Erwachsenen (vorbereiteter Erwachsener) beinhaltet.
Die Pädagogik von Maria Montessori erhält seit Jahren eine starke und weltweite Aufmerksamkeit. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass die berühmte Bildungsreformerin ihr pädagogisches Konzept frei von kulturellen, sozialen, ethnischen oder religiösen Besonderheiten entwickelte -frei ist von Doktrinen einer spezifischen Weltanschauung. Und so findet man Montessori-Pädagogik auf allen Kontinenten in vielen verschiedenen Ländern mit den unterschiedlichsten Kulturen. Von Kanada bis nach Chile, vom Norden Europas bis nach Afrika, von Russland bis Neuseeland, ...
Montessori äußert sich bei einem Pressestatement 1948:
"Meine vierzigjährige Erfahrung mit Kindern aus sämtlichen Rassen, sämtlichen Religionen und sämtlichen Gesellschaften - von königlichen Familien bis hin zu den schlimmsten Slums - hat mich gelehrt, dass die kindliche Entwicklung natürlichen Gesetzen folgt, die für alle Kinder gleich sind."
Maria Montessoris Credo der Erziehung ist die Bildung des Menschen im Sinne einer Persönlichkeitsentfaltung zum selbständigen, selbstdenkenden, moralischen und mündigen Menschen - ein Mensch, der gelernt hat, was Eigenverantwortung bedeutet und deshalb bereit ist, die Konsequenzen für sein Handeln und Tun zu übernehmen. Montessori glaubte fest daran, dass es möglich ist, durch eine ganzheitliche positive Persönlichkeitsbildung der Kinder zukünftige Generationen zu mündigen, verantwortungsvollen und mitfühlenden Menschen zu erziehen - ein Meta-Ziel ihrer Pädagogik, das nicht weniger als die Vision des Weltfriedens enthält.
Einige der wichtigsten Elemente einer "Montessori-Ethik" will ich hier ansprechen:
Der Ethik-Begriff in der Montessori-Pädagogik enthält eine Strategie der Wertschätzung, des Respekts und der Autonomie des Menschen und - elementar wichtig - die Achtung vor dem Leben selbst. Montessoris Ansatz erscheint uns bis heute so zeitlos wertvoll, weil sie die Grundprinzipien ihrer Pädagogik - die letztendlich die Grundprinzipien des Lebens sind - immer in einen höheren geistigen Zusammenhang stellt, der unser Leben als konstruktive Daseinsform berührt.
In den letzten Lebensjahren resümiert Montessori darüber, was die Montessori-Methode nun genau ist. Sie gibt sich dabei bescheiden und meint, sie hätte nicht viel getan - die Kinder seinen es, die sie alles gelehrt hätten. Sie hat dem Kind lediglich eine Stimme gegeben, so Montessori. Den Kindern eine Stimme zu geben, ist praktizierte Demokratie. Gelebte Demokratie in Kindergarten und Schule ist geprägt von konstruktiver Mitbestimmung, Mitgestaltung und Aktivität, in der jede/r Einzelne/r lernen kann bzw. gelernt hat, dass Mitbestimmung keinesfalls bedeutet, willkürlich tun und lassen zu können, was einem gerade passt, oder vorrangig die eigenen Interessen zu befriedigen Vielmehr lernt das Kind von Anfang an, dass demokratisches Handeln verantwortungsvolles Handeln verlangt. Das Recht auf Mitbestimmung impliziert auch das Recht auf selbstbestimmte aktive Tätigkeit.
Ebenfalls wichtige Aspekte sind die Freiheit im Zusammenhang mit Disziplin und Verantwortung. Montessori geht von einer Entwicklungspsychologie aus, die den Zusammenhang zwischen der Freiheit beim Lernen und der Entwicklung des Menschen betont - es geht darum, Bedingungen zu schaffen, welche erlauben, dass der Mensch seine Potentiale bestmöglichst ausbilden kann. Das Lernen in Freiheit ist unweigerlich eng gekoppelt mit einer positiven Kompetenzentwicklung: nämlich in welchen Grad z.B. soziale und emotionale Intelligenzen, kognitive Fähigkeiten und human-moralisches Denken und Handeln ausgebildet werden.
In der Montessori-Pädagogik wirken Inhalte einer säkularen Ethik als positiv - konstruktive Elemente der menschlichen Entwicklung und des menschlichen Zusammenlebens.
Montessori sprach immer davon, dass die Fähigkeit mit Freiheit umzugehen - eine Schlüsselqualifikation sei, die Schritt für Schritt aufgebaut werden muss. Frei sein bedeutet "Herr seiner selbst sein" und dies wiederrum bedeutet, befähigt sein zur Selbstdisziplin und zur Verantwortungsübernahme der eigenen Handlungen, der eigenen Bedürfnisse - und dazu gehört auch, die Bedürfnisse der Anderen zu sehen und zu respektieren. Ein solches Verständnis von Freiheitsbegriff beinhaltet das Menschenrecht und das Bedürfnis des Freiseins verbunden mit einem positiven Disziplin-Begriff sowie der Selbstverantwortung - und er beinhaltet ebenso den Gemeinschaftsgedanken.
Das ist eine Vorstellung von Gemeinschaft in der Partnerschaftlichkeit und Vertrauen wichtige Werte sind. Neben der Individualität wird dem Gemeinsamen gleich viel Aufmerksam gezollt. Das soziale Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird damit ermöglicht, die wiederum die Entwicklung der eigenen Identität zulässt.
Der bis heute währende Einfluss der Montessori-Pädagogik auf weltweite Schulentwicklungs-Konzepte ist vor allem einem der zentralen Aspekte der Montessori-Pädagogik zuzuschreiben: die Grundhaltung und Grundeinstellung gegenüber dem Kind als gleichwürdiger Mensch. Die Anerkennung des Gegenübers als vollwertigen Menschen ist durch Respekt, Achtung und Wahrung der Würde des Gegenübers gekennzeichnet und impliziert eine wertschätzende Kommunikation - ersetzt eine "alte" erziehende Belehrung durch eine "neue" einfühlende und pädagogisch reflektierte Ermöglichungskultur. Das der Montessori-Pädagogik zugrunde liegende Menschenbild anerkennt das Kind als gleichwertigen Mensch mit dem Vermögen zur Selbstbestimmung, Selbststeuerung und Eigenverantwortlichkeit und schreibt ihm die Reflexion bzw. die Sensibilität für moralische und soziale Werte und Einsichten zu.
"Immer muss die Haltung die der Liebe sein," so Montessori (2006, S.40). Sie plädiert für eine besondere Qualität der achtsamen Zuwendung zum Kind, die geprägt ist von "Ermutigung, Trost, Liebe und Achtung ", dies ist "der Hebel für die Seele des Menschen." (Montessori 2007, S.32)
Das Vermögen Takt und Feingefühl gegenüber dem Kind aufbringen zu können, ist eine wesentliche Kompetenz, die Montessori all jene stellt, die im Bildungsauftrag stehen. Es geht also um eine Haltung der Empathie und des Mitgefühls, wobei das Miteinander, das Verständnis füreinander und die Toleranz hervorgehoben sind.
Montessori, die Zeitzeugin zweier Weltkriege war, stellte die Erziehung zum Frieden hoch an. Sie ist davon überzeugt, dass Kinder, je nach dem, welche geltenden Werte in einer Gesellschaft gelebt werden, diese übernehmen. Als zukünftige Gestalter der Welt. Sie betont dabei die Tatsache, welch enorme Kraft zum Guten aber auch zum Bösen die Kindheit in sich trägt - welche ungeheure Verantwortung darin liegt. Denn alle Probleme der Menschheit hängen vom Menschen selbst ab. Kein Kind ist von Natur aus Demokrat oder Faschist, Christ, Jude oder Moslem. Das Kind ist aber von Anfang an ein soziales und lernendes Wesen, mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, nach Selbstbestimmung und Freiheit. Montessori sieht das Kind vor allen Dingen als den Baumeister der (zukünftigen) Menschheit.
Der Dalai Lama richtet einen Appell für eine säkulare Ethik und Frieden an die Welt
Seit vielen Jahren stellt der Dalai Lama sich die Aufgabe, seine Gedanken zur Lebensgestaltung einer friedlichen Menschheit in die Welt zu tragen. Unter anderem kommt er zum Schluss: "Ethik geht tiefer und ist natürlicher als Religion." (Dalai Lama 2015, S.11)
Nach dem islamistischen Terroranschlag in Paris Anfang Jänner 2015 auf die Redaktion 'Charlie Hebdo' sagte der Dalai Lama: "Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotential in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen."
Wasser ist Lebensgrundlage und ohne Tee können wir leben.
Menschen können ohne Religion auskommen, aber nicht ohne innere Werte, nicht ohne Ethik. "Der Unterschied zwischen Ethik und Religion ähnelt dem Unterschied zwischen Wasser und Tee. Ethik und innere Werte, die sich auf einen religiösen Kontext stützen, sind eher wie Wasser. Ohne Wasser kein Leben. Der Tee, den wir trinken, besteht zum größten Teil aus Wasser, aber der Tee enthält noch weitere Zutaten - Teeblätter, Gewürze, vielleicht Zucker oder eine Prise Salz - das macht den Tee gehaltvoller, nachhaltiger und zu etwas, das wir jeden Tag haben möchten.
Aber unabhängig davon, wie der Tee zubereitet wird: Sein Hauptbestandteil ist immer Wasser. Wir können ohne Tee leben, aber nicht ohne Wasser. Und so werden wir zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl - und nicht ohne das Grundbedürfnis nach Wasser." (Dalai Lama 2015, S.9)
Die Harmonie des Lebens und der Weltfrieden müssten kein leeres Theorie-Modell bleiben.
"Es ist heute offensichtlich, dass der Mensch in verzweifeltem Ausmaß der Intelligenz bedarf, um seine Kraft zur konstruktiven Veränderung der Dinge einzusetzen. Es ist nur zu hoffen, wenn er seine selbstverfertigte Welt in einer Fassung erhält, die menschliches Leben ermöglicht, sich in Richtung auf eine für alle würdige Existenzform entwickelt. Eben das lässt sich nur mit Hilfe von Erziehung verwirklichen." (Montessori 1977, S.141)
Montessori war davon überzeugt, dass mit einem universellen Erziehungsprogramm, wie sie es konzipierte - durch eine Erziehung, die die Gesetze der Natur-Ordnung achtet, die den Gesamtzusammenhang von Mensch, Welt und Kosmos eröffnet - einen Schlüssel zum Weltfrieden zu haben. Der "neue Mensch" der künftigen Generationen - hervorgebracht durch eine ganzheitliche Bildung - ein Mensch, der sich im Sinne eines "universalen Bewusstseins" bildet und damit in der Lage ist, "eine einzige universale harmonische Gesellschaft zu bilden" (Montessori 1992, S.127).
Wie kann aus diesem Artikel zitiert werden?
Bitte geben sie folgende Quelle an:
Margareta, Harrer (2016): Wasser und Tee. Treffpunkt Ethik: Montessori und der Dalai Lama. Aus einem Vortrag vom 23.11.2016 in der Montessorischule Weißenhorn bei Ulm: Elemente einer säkularen Ethik in der Montessori-Pädagogik.
Verfügbar unter: http://www.bel-montessori.at/blog/wasser_und_tee
Literatur:
- Montessori, Mario (1997): Erziehung zum Menschen. Montessori-Pädagogik heute. Frankfurt a. Main: Fischer.
- Montessori, Maria (1992): Dem Leben helfen. G. Schulz-Benesch. (Hrsg.). Freiburg: Herder.
- Montessori, Maria (2006): Grundgedanken der Montessori-Pädagogik (20. Aufl.). P. Oswald & G. Schulz-Benesch. (Hrsg.). Freiburg: Herder.
- Montessori, Maria (2007): Die Entdeckung des Kindes (19. Aufl.). P. Oswald & G. Schulz-Benesch. (Hrsg.). Freiburg: Herder.
- Tenzin Gvatso, der 14. Dalai Lama (2015): Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Ethik ist wichtiger als Religion. Franz Alt (Hrsg.). Salzburg: Benevento.