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Montessori in der Diskussion Buchkritik: Der lange Schatten Maria Montessoris

Harrer, Margareta (2024): Kritik zu Seichter, Sabine: Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind. Weinheim Basel: Beltz (ISBN 978-3-407-25937-0; € 29,00)

 

Zu Jahresbeginn 2024 erscheint das Buch von Sabine Seichter Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind. Weinheim Basel: Beltz (ISBN 978-3-407-25937-0; € 29,00). Obwohl der Titel des Buches neugierig machend und vielversprechend klingt, drängt sich beim Lesen der Verdacht auf, dass Frau Seichter eher dem Versuch gerecht werden möchte, die international anerkannte Reformpädagogin Maria Montessori als Faschistin, Rassistin und Eugenikerin darzustellen. Mittels zahlreicher hanebüchener Wortverdrehungen, diffamierendes Wording, einem durchgängig zynischen Unterton und aus dem Kontext befreite Entnahmen einzelner Stichwörter oder Wortgruppen aus der von ihr sehr vielfältig angegebenen Literatur hat Frau Seichter scheinbar beschlossen, sich einer vertiefenden und kontextbezogenen Forschung zur Thematik zu verschließen. Obwohl sie ihren wissenschaftlichen Anspruch an ihr "Werk" nicht nur einmal betont, ignoriert sie offenbar dem zu Trotze durchgehend grundlegende ethische Wissenschaftsregeln. Auch wenn ihre Quellenhinweise musterschülerhaft aufgelistet werden, garantiert dies nicht automatisch den Anspruch seriöser Wissenschaftlichkeit.

Würde man ihr Buch auf oben beschriebene Mankos aufarbeiten wollen, wäre ein Buch zum Buch notwendig. An dieser Stelle deshalb nur ein Beispiel an Hand des Theoriebegriffes 'Kohäsionsgesellschaft', wie Montessori ihn beschreibt und wie Frau Seichter mit aus dem Kontext Genommenem und Weglassung aus dem Originaltext der Reformpädagogin in ihrem eigenen Interesse völlig neu zusammensetzt, dahingehend interpretiert und damit offenbar erzählen möchte, dass Montessori eine Verehrerin Hitlers und Mussolinis war (Seichter 2024, S. 132-133):

 

Es muss jeden Leser verblüffen und geradezu sprachlos machen, wenn Montessori nach der Barbarei des Zweiten Weltkriegs in diesem Zusammenhang zwei Diktatoren nennt, die ihrer Meinung nach die Kraft gehabt hätten, die Welt zu erretten und die menschliche Gesellschaft zur Vervollkommnung zu führen! Es erscheint beinahe unfassbar, das Montessori in einem Buch, das erstmal nach 1945 erschien, uneingeschränkt und unkritisch das Charisma und die Führungskraft von Mussolini und Hitler preist. Leider, so fügt Montessori enttäuscht hinzu, sei die Gesellschaft aufgrund ihres "niedrigen" Niveaus damals nicht in der Lage gewesen, diese Chance einer uneingeschränkten Gefolgschaft zu ergreifen und unter einer (faschistischen) Führung die Vervollkommnung der Gesellschaft tatkräftig anzustreben. Wie keine Vergleichbaren hätten Mussolini und Hitler - so Montessori unverblümt - die Dringlichkeit einer "neuen" Erziehung und die Notwendigkeit eines "neuen" Menschen erkannt: "Mussolini und Hitler waren sich als erste darüber klar, daß man die Individuen von ihrer ersten Kindheit an vorbereiten muß, wenn man eine sichere Eroberung anstrebt. Sie erzogen die Kinder und Jugendlichen über Jahre hinaus und flößten ihnen ein Ideal ein, damit es sie verein. Hierbei handle es sich um ein logisches und wissenschaftliches Vorgehen, was immer auch der moralische Wert gewesen sein mag. Diese Führer fühlten, daß sie eine 'Kohäsionsgesellschaft' als Basis für Ihre Pläne benötigen, und bereiteten sie von Grund auf vor." Ihre - und ganz ähnlich Montessoris - Pläne lauteten: Die Neuorganisierung der Gesellschaft durch Säuberung von den "anormalen" und Perfektionierung der "höheren Rasse" - ohne moralische Skrupel. "die Masse der Ungebildeten", so Montessoris Diagnose weiter, habe bislang eine Höherentwicklung der "Rasse" verhindert. An diesem Missstand könne auch kein "Führer" etwas ändern, "auch wenn er ein noch so großes Genie ist". Gleichzeitig hält Montessori an ihren eigenen Führungsqualitäten fest. Denn: Ohne Kontrolle und ohne Führung sei ein gesellschaftliches Fortschreiten nicht möglich; gehorsame Menschen seien Ausgangs- und Zielpunkt aller Entwicklung; "das Endziel eines langen eines langen Vervollkommnungsprozesses".

Das von Frau Seichter angewandte Wording suggeriert eine faschistische Maria Montessori, die Hitler und Mussolini gutheißend preist und unterschlägt gleichzeitig durch eine Auslassung, dass Montessori Hitler und Mussolini im Zusammenhang ihrer Definition von Gesellschaftsbildung mit dem Begriff "Dämon" belegt hat. "Diese Führer fühlten, daß sie eine 'Kohäsionsgesellschaft' als Basis für ihre Pläne benötigten, und bereiteten sie von Grund auf vor. Die Kohäsionsgesellschaft ist jedoch ein Naturphänomen, das sich spontan und aufgrund der schöpferischen Anregung der Natur aufbauen muß. Keiner kann an Gottes Stelle treten, und wer es versucht, wird ein Dämon."

 

Frau Seichters neue "Wortkombinationen" und "Neudeutung" aus der Montessori-Literatur im oben genannten Text können zum Vergleich im originärem Text von Montessori (1949) zur Kohäsionsgesellschaft untersucht und verglichen werden. Es kann sehr schnell festgestellt werden, dass der Inhalt des Originaltextes ein anderer ist, als der von Seichter neu zusammen gefügten Wörter und Wortgruppen suggeriert. (Quelle zum originärem Text in: Montessori 200516, S. 209-219ff - erstmalig 1949 in Indien im Buch "Das kreative Kind" (The Absorbent Mind) veröffentlicht).

Leider zeigen sich viele weitere Thesen in Seichters Buch in dieser verzerrten Charakteristik.

Ein wissenschaftlicher und kritischer Diskurs zur Person Maria Montessori oder zu ihrer pädagogischen Konzeption wie er seit Jahrzehnten bereits stattfindet, ist begrüßenswert und bildet einen wichtigen und wertvollen Beitrag an einer bis heute andauernden Diskussion über die Person und über das Werk Montessoris. Gewöhnlicher Weise pflegen Forscherinnen und Forscher dabei einen wissenschaftssprachlichen Duktus - der durchaus provokant oder auch unbequem ausfallen darf - und einer kritischen 'Montessori-Diskussion' nur dienlich sein kann. Sie charakterisieren sich in der Regel auch darin, dass man dabei ohne Diffamierung auskommt. Ob Frau Seichter dieses Kriterium erfüllt, darf sich jede Leserin, jeder Leser selbst fragen.

Die Koppelung der Themen Faschismus, Rassismus und Eugenetik mit so einer weltberühmten Persönlichkeit wie Maria Montessori lässt sich besonders in Deutschland und Österreich ob der nationalsozialistischen gemeinsamen Geschichte sehr medienwirksam vermarkten. In diesem Sinne kann dieses Buch als ein Erfolg verbucht werden. Es lässt einen schon fast schmunzelnd zurück, dass Frau Seichter, die Maria Montessori in ihrem Buch nicht nur einmal die Nutzung und eigene Selbstdarstellung durch die damaligen Medien vorwirft (die in keiner Weise vergleichbar mit der heutigen Medienlandschaft ist) und Frau Seichter sich selbst seit Erscheinen ihres Buches in der breiten aktuellen Medienlandschaft dauerhaft präsentiert (Zeitungen, Zeitschriften, Social Media, Interviews, ...). Dazu ist zu bemerken, dass keiner von Seichters Kritikpunkten neu ist und in Fachkreisen immer wieder durch entsprechende Veröffentlichungen zur Diskussion gestellt werden - allerdings ohne instrumentalisierte und propagandaheischende Medienwirksamkeit.

Frau Seichter entzieht sich mit ihrem Buch nicht nur der notwendigen differenzierten Wissenschaftlichkeit, vielmehr liest sich ihr Buch wie eine grobe und angriffige Abrechnung - was als sehr bedauerlich einzustufen ist. Warum? Weil ihr einseitiges und wissenschaftlich zweifelhaftes Herangehen zur Thematik dem kritischen und notwendigen Diskurs rund um Montessori eher im Weg steht als dass sie ihn fördert.

Literatur:

Montessori, M. (2005a): Das kreative Kind (16. Aufl.). P. Oswald & G. Schulz-Benesch.

(Hrsg.). Freiburg: Herder.

Seichter, S. (2024): Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind. Weinheim, Basel: Belz.

 

Margareta Harrer, Mag., Dr.

Leiterin der Bildungswerkstätte Eigenaktives Lernen (BEL) in Österreich. Ausbildnerin der Lehrgänge zur Montessori-Pädagogik mit Schwerpunkt auf zeitgemäße Umsetzung in der Praxis. Doktorat in den Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg, Studium der Soziologie an der Universität Linz. Montessori-Pädagogin. Buchautorin, begleitendes Coaching für Montessori-Pädagogik in Kindergarten und Schule. Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen ÖFEB.

Wie kann aus diesem Artikel zitiert werden?

Bitte geben sie folgende Quelle an:

Margareta, Harrer (2024): Montessori in der Diskussion. Buchkritik: Der lange Schatten Maria Montessoris.

Verfügbar unter: https://www.bel-montessori.at/blog/montessori_in_der_diskussion

Literatur:

  • Montessori, Maria (2005a): Das kreative Kind (16. Aufl.). P. Oswald & G. Schulz-Benesch. (Hrsg.). Freiburg: Herder.
  • Seichter, Sabine. (2024): Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind. Weinheim, Basel: Belz.

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